Präsentation des „WerkbundStadtBerlin Projekts“

Kommentar von Albrecht Göschel

Kommentar zur Präsentation des „WerkbundStadtBerlin Projekts“ in der Berliner Werkbundgalerie am 06. Februar 2016.

Am 06. Februar 2016 fand in der Berliner Werkbundgalerie nach vorhergehender Baustellenbesichtigung eine intensive und kontroverse Diskussion des „WerkbundStadtBerlin Projekts“ statt, an der sich der Verfasser in einem längeren Beitrag beteiligt hat. Nach der Diskussion wurde der Wunsch geäußert, diesen Redebeitrag als kurzen Text zu formulieren und dem Werkbund zur Verfügung zu stellen. Dieser Bitte komme ich hiermit gerne nach, möchte allerdings auch zu Bedenken geben, dass ein schriftlicher Text niemals die Spontaneität und Frische zeigen kann, wie ein Wortbeitrag in einer hitzigen, engagierten Debatte.

Bei der Vorstellung und Verteidigung der „WerkbundStadtBerlin Projekts“ bezog sich Paul Kahlfeldt, zurzeit Vorsitzender des Berliner Werkbundes, wiederholt auf die Geschichte des Deutschen Werkbundes, vor allem auf seine Gründung und die dieser zu Grunde liegenden Normen und Kategorien. Dieses seien primär drei gewesen: Gesellschaft, Wirtschaft, Gestaltung. Unter Bezug auf diese drei „Dimensionen“ habe der „alte“ Werkbund seine Arbeit verstanden und dies seien auch die Bezugspunkte der aktuellen Arbeit des Berliner Werkbundes im Allgemeinen und des „WerkbundStadtBerlin Projekts“ im Besonderen. Eine solche Systematik stellt nun zwar eine erhebliche Verdinglichung und Vereinfachung der z. T. recht komplexen Annahmen und Voraussetzungen des Werkbundes dar, dennoch kann sie zur Klärung von Intentionen genutzt werden. Aber selbst dann, wenn man diese Kategorien in dieser Formulierung akzeptiert, wird man nicht umhin können, in den Darstellungen des Berliner Werkbundes Interpretationen zu sehen, die von denen des „alten“ Werkbundes erheblich abweichen, so dass sich die Frage stellt, ob sie noch im Sinne des Werkbundes verwendet und verstanden werden können und ob die Neu-Interpretationen plausibel und gerechtfertigt sind.

Zur Kategorie „Gesellschaft“:

Im „alten“ Werkbund, also zu dessen Gründung und während der 1920er- bis in die 1950er-Jahre, taucht die Kategorie der „Gesellschaft“ eher als Objekt, als Gegenstand auf, und zwar als Gegenstand einer umfassenden Erziehung zu Anstand und Sittlichkeit, zu der sich die frühen Werkbundmitglieder durch Gestaltung der gesamten Umwelt berufen fühlten. Sie stehen damit in der Tradition einer bürgerlichen Kunstreligiosität, die in der Architektur bereits von Schinkel postuliert worden war und die vom frühen Werkbund als Mittel zur Lösung vor allem sozialer Konflikte verstanden wurde. Partizipatorische Elemente, also Formen einer Beteiligung von Gesellschaft an Entwurfs- oder Gestaltungsvorgängen liegen den Werkbundmitglieder bis weit in die 1920er-, man könnte sagen bis in die 1950er-Jahre denkbar fern. Wenn gesellschaftliche Ansprüche, also bestimmte soziale Bedarfe eine Rolle spielen, dann werden sie nicht partizipativ, sondern wissenschaftlich-analytisch, als durch praxisbezogene wissenschaftliche Forschung in den Gestaltungsvorgang einbezogen, und Erhebungen, Messungen oder Befragungen haben mit Partizipation nun einmal nichts zu tun.

Im Entwurfsvorgang der Werkbundsiedlung soll aber gerade dieses partizipative Element eine zentrale Rolle spielen, wie es seit den 1970er-Jahren mehr oder weniger zum guten Ton jedes Entwurfsvorganges gehört. Die Sprecher des Berliner Werkbundes vollziehen aber nicht nur eine Interpretation des Gesellschaftlichen, die nicht in der Tradition des Werkbundes steht. Auch wenn man Betroffenbeteiligung als unumgängliche Modernisierung des Gesellschaftsbezuges verstehen kann, wirkt sie dennoch im Berliner Projekt etwas aufgesetzt. Man kommt, so besteht der Eindruck, einer aktuell üblichen Forderung nach, die eben heute immer berücksichtigt werden muss, auch wenn man von deren Berechtigung nicht so recht überzeugt ist. Dieser Eindruck wird vor allem verstärkt durch die – vorsichtig gesagt – äußerst pragmatische Fassung des Gesellschaftlichen. Während die gesamten Versuche und Debatten zur Partizipation, wie sie seit den frühen 1970er-Jahren geführt wurden, darauf zielen, basisdemokratische Verfahren zu entwickeln, sich also von verfasster oder repräsentativer Demokratie und deren Verfahren auf Grund unüberwindlicher Schwächen zu lösen, beabsichtig das Berliner Werkbundprojekt, sich auf genau diese Organe und Institutionen repräsentativer Demokratie, also auf Bezirksvertretungen etc. zu stützen. Das könnte man als einen gravierenden Rückfall hinter all das empfinden, was in der Partizipationsdebatte gedacht und getan wurde. Alle Fragen z.B. des bürgerschaftlichen Engagements, einer direkten Demokratie etc. scheinen auf diese Weise vom Tisch gefegt zu sein.

Und dennoch kann man diesen Ansatz auch als höchst plausibel empfinden. Bei einer Siedlungsplanung für mehrer Tausend Bewohner gibt es im Entwurfsstadium die „betroffene“ Bevölkerung, die in partizipatorischen Verfahren von Basisdemokratie eingebunden werden könnte, schlicht und einfach gar nicht. Sie entsteht ja erst dann, wenn das Objekt bezogen, also mehr oder weniger fertig und abgeschlossen ist. Neubauplanungen für größere Siedlungsvorhaben unterscheiden sich damit sowohl von Eingriffen in bestehende Stadtstrukturen z. B. bei Sanierungen, als auch von kleineren Wohnprojekten, z. B. nach dem Bauherren- oder Baugemeinschaftsmodell, bei denen die Bewohner nicht nur von Anfang an bekannt sind, sondern in denen sie sich als „kollektiver“ Bauherr konstituieren und damit gravierenden Einfluss auf „ihr“ Objekt nehmen können. Der Bezug auf die verfassten Institutionen repräsentativer Demokratie, der im Berliner Projekt erfolgt, ist also nicht nur angemessen, er ist unvermeidlich, selbst dann, wenn er aus basisdemokratischer Sicht als reduziert und konventionell erscheinen mag.

Das Projekt bleibt dabei allerdings nicht stehen. Partizipatorische Ansprüche, die in basisdemokratischen Mitbestimmungsformen eingelöst werden sollten, resultieren aus dem Gefühl der Fremdbestimmung durch eine weitgehend technokratische Planung und reduziert funktionalistische Architektur. Eine freie Entfaltung „authentischer“ Wohnformen durch die Bewohner ist in solchen Entwürfen ausgeschlossen. Dem sollte Partizipation, also die Mitwirkung am Entwurf, begegnen. Ziel von Partizipation ist also nicht Mitbestimmung als solche, keine Übung in Basisdemokratie, keine bürgerschaftliche Erziehung zum mündigen Bürger, sondern einfach nur der Versuch einer Reduktion von Fremdbestimmung und Einschränkung durch bestimmte Festlegungen im Entwurf. Vermeidet der Entwurf derartige Festlegungen, sind also vielfältige, von den Bewohner im Laufe des Lebens in den Wohnungen vorzunehmende Veränderungen möglich, ist also „authentisches“ und nicht nur fremdbestimmtes Wohnen in den vorgegebenen Formen zu verwirklichen, entfällt der entscheidende Anlass für Mitbestimmung an der Gestaltung von Wohnungen im Siedlungsbau. Genau diese Offenheit und Flexibilität aber streben die Vertreter des Berliner Projektes an, und nehmen für sich, ob zu Recht oder Unrecht, die Kompetenz in Anspruch, als Architekten und Gestalter diesen Bedürfnissen auch nachkommen zu können, und zwar Kraft ihrer Professionalität. Mit dem zweifellos etwas modischen Schlagwort von der „Belastbarkeit“ der Grundrisse wird dieses Konzept bezeichnet. Wenn es tatsächlich gelingt, wenn tatsächlich die flexiblen, dauerhaft in vielfältiger Weise nutzbaren Wohnungen entstehen, ist damit dem Anspruch auf Selbstbestimmung weit besser gedient, als mit basisdemokratischen Partizipationsverfahren, die gar nicht möglich sind, da die „Betroffenen“ fehlen und die wegen mangelnder Professionalität möglicher Betroffener das gemeinte Ziel, die Befreiung von Fremdbestimmung, auch systematisch verfehlen.

Die Neu-Interpretation dessen, was die Projektprotagonisten als „Gesellschaft“ bezeichnen, kann also durchaus als plausibel gelten, da es das Motiv von gesellschaftlicher Beteiligung angemessener interpretiert, als es in hilflosen Beteiligungsverfahren häufig der Fall ist.

Zur Kategorie „Wirtschaft“:

Die Kooperation des „alten“ Werkbundes mit der Wirtschaft u. a. durch Mitgliedschaften bedeutender Unternehmer im Werkbund, zielt auf Wirtschaftsförderung. Das Lable „Made in Germany“, das während der Zeit der deutschen Industrialisierung keinen guten Ruf hatte und daher von England als Warnung vor schlechter Qualität verwendet worden war, sollte gegen eine vor allem englische Übermacht auf dem internationalen Markt durchgesetzt werden. Deutsche Produkte sollten sich gegen die anerkannten englischen Industrieerzeugnisse behaupten, sie im Zweifelsfall übertreffen können. In typisch deutscher Weise geschah auch das kulturell, also nicht etwa durch Zollschranken oder subventionierte Dumpingpreise, sondern durch die Frage nach dem „Wesen“ eines jeden Gegenstandes oder Produktes, um dann, wenn dieses bestimmt sei, die Einzelgegenstände genau diesem Wesen entsprechend zu produzieren. Unvergessen in diesem Kontext die Aufforderung des Fabrikanten Bahlsen, selbst Werkbundmitglied, das „Wesen des Kekses“ und auch das der Verpackung zu bestimmen, um dann entsprechend produzieren zu können. Das Ergebnis war übrigens bekanntlich durchschlagend. Der damals definierte wesenhafte, seinem Wesen entsprechende Bahlsenkeks wird bis heute fast unverändert produziert. Nur die wunderschönen Metalldosen hat man leider durch Papierverpackungen ersetzt, auch wenn diese einem Verbrauchsgut wie einem Keks wohl in dessen Wesenheit mehr entsprechen.

Von dieser Intention einer nationalen Wirtschaftsförderung, in der durchaus chauvinistische, vor allem aber ontologische Argumente eine Rolle spielen, ist nun beim Berliner Werkbundprojekt rein gar nichts mehr zu spüren. Man muss das nicht weiter kommentieren, so plausible wirkt dieser Verzicht. Stattdessen soll die Wirtschaft schlicht und einfach die Rolle des Investors übernehmen, eine in jeder Hinsicht plausible Entscheidung. Allerdings hat man bei diesem Punkt den Eindruck, dass ohne jede reale Bedeutung allein wegen des damit verbundenen Imagegewinns auf eine lange Geschichte, die des Werkbundes, Bezug genommen wird.

Die Dimension „Gestaltung“:

Zwar liegt der Begriff „Gestaltung“ kategorial auf einer anderen Ebene als die Begriffe „Gesellschaft“ und „Wirtschaft“, sieht man über solche Feinheiten jedoch hinweg, ist er für die Erfassung dessen, worum es hier geht, durchaus geeignet. Für den „alten“ Werkbund ist „Gestaltung“ eine Schlüsselkategorie, da mit ihr, wie gesagt, alle die normativen, ethischen Implikationen und Anforderungen verbunden werden, die den Werkbund auszeichneten. Durch alle schriftlichen Verlautbarungen, sei es von Muthesius, von Heuss und anderen zieht sich diese Vorstellung einer durch Gestaltung einzulösenden, zu verwirklichenden Normativität, die vor allem in Begriffen wie „Anstand“, „Sittlichkeit“, „Ehrlichkeit“ zum Ausdruck gebracht wird. Die Hintergründe sind leicht zu erkennen: eine eklektizistische Industrieproduktion, in der die Produkte niemals als das erscheinen durften, was sie eigentlich waren, in der sich billige Massenprodukte als gediegenes Handwerk, billige Surrogate als höchste materielle Werte ausgaben. Diese Ablehnung einer vorgetäuschten Welt unehrlicher Produkte wird an eine Tradition von Kunstreligiosität angebunden, wie sie vor allem in der englischen Arts-and-Crafts-Bewegung virulent war, aber auch deutsche Kunstreflexion seit dem Idealismus prägt. „Gestaltung“ wird damit zu einem Erziehungsauftrag, für den die Experten der Form verantwortlich sind und den sie nach ihren Gestaltungsvorstellungen des Einfachen, Klaren, „Ehrlichen“ einzulösen suchen. Entscheidend scheint dabei zu sein, dass diese normative Dimension von Gestaltung sehr pauschal angenommen wird, also ohne spezifische Differenzierungen. Gestaltung vermittelt „Anstand“, der als solcher dann auf alle Lebensbereiche ausstrahlen muss. Aber nur für das pauschale Ziel des „Anständigen“ qua „guter Form“ sind die Experten der Gestaltung zuständig.

Von einer solchen Aufladung des Gestaltungsbegriffs ist im Kontext des Berliner Werkbundprojekts an keiner Stelle mehr die Rede, und das kann man spontan nur begrüßen. Auch wenn wir auf Gestaltung in Architektur und Städtebau auf keinen Fall verzichten wollen – und sie erfährt zurzeit wieder größere Anerkennung und Aufmerksamkeit als zu Zeiten einer Planungseuphorie in den 1960er- und 1970er-Jahren – werden wir kaum geneigt sein, dieser Gestaltung pauschal normative Gehalte zuzubilligen.

An die Stelle pauschaler normativ-ethischer Annahmen treten zahlreiche, höchst differenzierte und vor allem kontroverse, widersprüchliche Zielformulierungen an die Gestaltung, in diesem Fall an die Form einer Wohnbebauung und ihrer Einzelgebäude oder Wohneinheiten. Ohne es hier im Einzelnen nachzuvollziehen, erweckt die Präsentation der Berliner Projektes den Eindruck, dass die Protagonisten genau diesem Prinzip folgen und Gestaltung als die in eine Form gebrachte Synthese und Vermittlung von Widersprüchen und Konflikten zwischen konträren Zielsetzungen verstehen, und dies in einer Weise, die den zukünftigen Bewohnern die denkbar größten Freiheiten bei der „Gestaltung“ ihrer Lebensvollzüge ermöglichen sollen. Es ist dieser Prozess der Formgebung, den sie als Metier, als Qualifikation des Gestalters begreifen. Eine solche Vorstellung ist von der des „alten“ Werkbundes denkbar weit entfernt und dennoch heute die einzig akzeptable. Ob Gestaltung darüber hinaus normative Aspekte entfaltet, bleibt offen und ist erst am fertigen Objekt zu ermessen. Über mögliche Kriterien – Vielfalt, Gliederung, Lesbarkeit, Klarheit, Kohärenz etc. – kann in der kürze dieses Beitrages sinnvoller Weise nichts gesagt werden.

Neben den drei Umdeutungen tradierter Werkbunddimensionen sind es aber noch weitere Vorgaben, die das Projekt „Berliner Werkbundsiedlung“ in ein günstiges Licht rücken, z.B. der Verzicht auf öffentliche Förderung. Jede sozialstaatliche Einbindung eines solchen Siedlungsprojektes wie auch anderer Vorhaben z.B. des Gemeinschaftlichen Wohnens, das ja in dem Projekt realisierbar sein soll, zieht unweigerlich Verregelungen und Verrechtlichungen nach sich, die einem zukunftsorientierten, offenen, innovativen Experiment im Wege stehen. Zweifellos können Prinzipien des Baurechts nicht ohne weiteres außer Kraft gesetzt werden, auch wenn man diese Forderung stellen möchte und sie in der Diskussion auch immer wieder gestellt wird. Aber mit dem Verzicht auf sozialstaatliche Förderung wird zumindest ein Ansatz unternommen, allzu engen rechtlichen Vorgaben auszuweichen. Bedenkt man die unglaubliche Fixierung auf den „Staat“, die in Deutschland alle öffentlichen Aktivitäten kennzeichnet und lähmt, ist diese Entscheidung gar nicht hoch genug zu bewerten, vor allem, wenn dennoch die Zielvorgabe besteht, auch für untere Einkommensgruppen Wohnraum vorzusehen.

Ein zweiter Aspekt sind die bereits erwähnten „belastbaren“ Grundrisse. Sie sollen nicht nur unterschiedliche Wohnformen ohne vorhergehende Fixierungen ermöglichen, sondern das gesamte Projekt auch ökologischen Forderungen unterwerfen. Statt also z.B. Dämmungen vorzusehen, die in naher Zukunft selbst zum ökologischen Problem werden können, sollen die flexiblen und zukunftsoffenen Nutzungsmöglichkeiten der Bebauung Langfristigkeit und damit eine Vermeidung von Abriss und Abfall sichern. Als Vorbilder werden Wohnungsgrundrisse z.B. der Berliner Gründerzeitbebauung genannt, die sich dadurch auszeichnen, dass fast alle Räume in ihren Nutzungsmöglichkeiten nicht bindend fixiert sind, also ohne bauliche Veränderungen immer wieder anders genutzt werden können. Etwas Derartiges auch für kleinere Wohnungen zu realisieren, bedeutet eine erhebliche Anforderung an die „Gestaltung“. In ähnlicher Weise werden mit den Vorgaben „Ziegelmauerwerk“ und „Steildach“ gleichfalls gestalterische und gleichzeitig ökologische Ziele formuliert. In der Weißenhofsiedlung war der Vorgang, der zu Vorgaben führte genau umgekehrt. Die einzige Vorgabe, die Mies van der Rohe als unabdingbar gesetzt hat, war „Flachdach“, und dies war eine ästhetische Vorgabe, vermutlich ohne irgendwelche darüber hinausgehenden Implikationen.

Und es gibt noch einen dritten Aspekt des Projektes, der in der Trias „Gesellschaft, Wirtschaft, Gestaltung“ nicht direkt angesprochen wird, unabdingbar aber zur sozialen, gesellschaftlichen Dimension gerechnet werden muss: die Wahl des Bauplatzes innerhalb der existierenden Stadt, und zwar in einem relativ stark verdichteten, alten Stadtteil überwiegend der Gründerzeit. Zurzeit wird das Grundstück als Öllager genutzt, und zumindest angrenzende Industriebauten können – und sollen – auch nicht abgerissen werden. Mit dieser Platzierung des Projektes nicht am Stadtrand, wie bei fast allen historischen Werkbundsiedlungen, sondern in der alten Stadt wird nicht etwa nur ein Nutzungskonzept verfolgt. Es liegt eine programmatische Entscheidung zugrunde. Die historischen Werkbundsiedlungen artikulierten mit ihrer räumlichen Distanzierung von der bestehenden Stadt zugleich ihre programmatische Abkehr von einer bestehenden Gesellschaft. Sie dokumentierten damit ihre Utopieansprüche, die auf Bestehendes keine Rücksicht mehr zu nehmen beabsichtigten. Sie wollten, verkürzt gesagt, als das ganz Andere zu ihrer Gegenwart erscheinen. Die Integration des Berliner Werkbundprojektes dagegen bindet bewusst an Bestehendes, an die Stadt und ihre Gesellschaft „wie sie nun einmal ist“ an. Angesichts der Erfahrungen, die mit radikalen Utopien gemacht werden konnten, erscheint diese Verbindung zum Bestehenden nicht als reduziert pragmatisch, sondern als völlig plausibel, als zutiefst vernünftige Alternativen zu Utopien, die sich mehr oder weniger deutlich in kurzer Zeit als ausgesprochen gewaltsam entpuppt haben. Zukunft erschließt sich eben nicht mehr durch Setzungen eines ganz Anderen, sondern durch schrittweise Korrekturen des Bestehenden im Bestehenden. Im Kontext der Werkbundgeschichte ist das ein nicht ganz unbedeutendes Statement.

Abschließend stellt sich natürlich die Frage, was denn ein solches Projekt noch mit dem Werkbund zu tun haben könnte, wenn im Grunde alle Dimensionen, die für den Werkbund von Bedeutung waren, neu definiert und dabei z. T. nahezu in ihr Gegenteil verkehrt werden. Man kann sich die Antwort einfach machen und sagen: Fast gar nichts mehr. Keine der Zielsetzungen des „alten“ Werkbundes kann heute noch Plausibilität für sich in Anspruch nehmen, außer der, hohe Qualität anzustreben. Das tut wohl auch da Berliner Werkbundprojekt, auch wenn die Qualitätskriterien andere sein mögen, als zur Gründungsphase des Werkbundes. Qualitätskriterien aber, die nur der Werkbund für sich in Anspruch nehmen könnte, die seine Projekte von allen anderen unterscheiden, scheinen nicht verfügbar zu sein, aber das muss kein Schade sein. Die Suche nach Qualitätskriterien, allein um einem Distinktionsbedürfnis zu genügen, scheint höchst fragwürdig und sollte für architektonische und städtebauliche Überlegungen keine Rolle spielen. Vielleicht lässt sich am realisierten Projekt dann ja sagen, dass eben nur der Werkbund in der Lage war, ein solches Vorhaben zu verwirklichen. Also warten wir es ab.

 

Albrecht Göschel
Berlin, 15.02.2016

Verfasser
Deutscher Werkbund Bayern e.V.

Rubrik
Meinungsbeiträge