Das Kleine Haus des Staatstheaters in Mainz
In vielerlei Hinsicht war der Bau des Mainzer Theaters in den letzten zwei Jahrhunderten eine stete Herausforderung. Von Kaiser Napoleon samt davor liegendem Platz als neue, kulturelle Stadtmitte verordnet, 1804 von seinem Chefarchitekten Eustache de Saint Far euphorisch geplant, ein Vierteljahrhundert später vom hessischen Oberbaudirektor Georg Moller mit bescheidenerem Aufwand umgesetzt und von der Mainzer Bürgerschaft finanziert.
Ende des 19. Jahrhunderts galt die streng axiale Anlage des Gutenbergplatzes mit dem Stadttheater als Kopfbau, den symmetrisch ausgeführten Flanken und den seitlich fortführenden Freiflächen Tritonplatz und Krempelmarkt vor der Alten Universität als einer der prächtigsten Raumfolgen neuzeitlicher Stadtbaukultur nicht nur in Deutschland. (Abb. 2)

Abb. 2 Lageplan 1890
Bemühungen um die Jahrhundertwende, die Mainzer Theaterverhältnisse durch ein ergänzendes Schauspielhaus zu verbessern, scheiterten. Stattdessen gab es eine tief greifende Umgestaltung des Mollerbaus durch Stadtbaurat Adolf Gelius in den Jahren 1910 bis 1912. Nach den Kriegszerstörungen 1942 konnten umfassendere Veränderungswünsche näher untersucht werden. Noch vor Kriegsende 1945 entwarf der städtische Beigeordnete Dr. Heinrich Knipping einen deutlich größeren Neubau, der teilweise die nördliche Hälfte des Gutenbergplatzes beanspruchte. Man entschied sich jedoch für den Wiederaufbau, der mit finanzieller Unterstützung der damaligen Besatzungsmacht Frankreich 1950/51 durch den Stadtarchitekten Richard Jörg erfolgte.
Durch die Anordnung drei flankierender Platzanlagen und die innere Organisation des Theaters kam eine bauliche Erweiterung nur auf der Rückseite in nördlicher Richtung in Frage. Vorsorglich sicherte sich die Stadt Mainz in der Wiederaufbauphase Liegenschaften von Trümmergrundstücken jenseits der Alten Universitätsstraße. In erster Linie war hierbei an ein dringend erforderliches Kulissenhaus gedacht. Die dänischen Architekten Arne Jacobsen und Otmar Weitling, Planer des kurz zuvor eingeweihten Mainzer Rathauses, erstellten 1971 einen entsprechenden Entwurf, der dann Anfang der achtziger Jahre aufgegeben wurde. Stattdessen sollte das Grundstück gewinnbringend vermarktet werden. Der Bauantrag für das Verwaltungsgebäude einer Anlagegesellschaft war bereits gestellt. Eine forcierende Kulturpolitik in Mainz führte jedoch zu Überlegungen, in Ergänzung zu dem städtischen Theater ein „Kleines Haus“ nur für Schauspielzwecke zu errichten. Auf Anregung der Landesregierung Rheinland-Pfalz und nach zügigen Verhandlungen mit der Stadt Mainz wurde am 15. Juni 1989 der Vertrag zwischen beiden Partnern unterschrieben, das „Stadttheater Mainz“ in das „Staatstheater Mainz“ umzuwandeln. Um diesen ambitionierten Ansprüchen baulich und betrieblich zu genügen, gehörte die überfällige Sanierung des Bestandes, doch zuvor der Neubau eines „Kleinen Hauses“ an der Alten Universitätsstraße. Die Stadt stellte hierbei die erforderlichen Grundstücke baureif zur Verfügung und das Land übernahm die Kosten des Neubaus.
Zur Findung optimaler Lösungen lobte die Stadt Mainz gemeinsam mit dem Land Rheinland-Pfalz im Frühjahr 1989 einen Planungswettbewerb aus, an dem sämtliche Architekten und entsprechende Arbeitsgemeinschaften der Bundesrepublik sowie Berlin West teilnehmen konnten. Grundlage war das von den Berliner Theaterbauspezialisten Biste und Gerling schon 1987 erstellte Raumprogramm mit der Zielsetzung einer für sämtliche Inszenierungsformen nutzbaren Spielstätte. Von der Denkmalpflege kam die Vorgabe, nicht direkt an den unter Schutz stehenden Altbau anzusetzen, sondern mit gebotenem Abstand jenseits der Alten Universitätsstraße. Hinzu kam die Aufgabe, den zu trostlosen Autoparkflächen degradierten Tritonplatz neu zu gestalten. 58 Teilnehmer folgten der Einladung. 25 Experten prüften die anonym eingereichten Entwürfe vier Monate lang in einem eigens für diese Zwecke aufgestellten Großzelt im Zitadellengraben. Ein international besetztes Preisgericht entschied sich im November 1989 einstimmig für das Büro „As-Plan“ aus Kaiserslautern unter anderem mit der Begründung, dem Verfasser sei es gelungen, „den Bereich Theater/Tritonplatz als städtischen Raum neu zu definieren“, und lobte zusammenfassend „die großen Qualitäten des Entwurfes“. (Abb. 3)

Abb. 3 Lageplan 1994

Architekt Klaus Möbius (1953-1996 | seinerzeit Vorstandsmitglied des Deutschen Werkbunds Rheinland-Pfalz) hatte als Partner in dem Büro „As-Plan“ den Wettbewerbsentwurf eigenständig geplant und machte sich mit Auftragserteilung sowohl für den Neubau des „Kleinen Hauses“ als auch zur Neugestaltung des Tritonplatzes 1990 in Mainz selbstständig. Ein Jahr zuvor hatte er den Staatspreis für Kunst und Architektur erhalten.
Kurz vor Beginn der Ausführungsplanungen kam es durch den im Frühjahr 1990 gewählten neuen Intendanten Dr. Peter Brenner (1930-2024) zu starken Änderungen des Raumprogramms. Brenner, zuvor Intendant des Darmstädter Theaters, empfahl, in Konkurrenz mit den benachbarten Staatstheatern in Wiesbaden und Darmstadt stehend, eine Vollbühne, die gleichzeitige beziehungsweise wechselseitige Bespielbarkeiten von „Großem“ und „Kleinem“ Haus ermöglichte. Das erforderte neben Bühnenturm und Schnürboden enorme Ergänzungen auch im Bereich der Werkstätten, Probe- und Kulissenräume.
Möbius und Gerling gelang das Kunststück, eine Lösung zu finden, die ursprünglich festgelegte Kubatur von 30.000 auf 60.000 Kubikmeter zu verdoppeln und trotzdem die städtebauliche Grundkonzeption samt architektonischer Ausformung beizubehalten. Die Umsetzung des neuen Konzeptes erfolgte fast ausschließlich durch Vergrößerungen des unterirdischen Bauvolumens. Kulissen und Fundus beider Häuser sind nun vollständig in Tiefgeschossen untergebracht. Dadurch entfielen Transporte zu den bisherigen Außenlagern. Die Probebühnen für beide Häuser liegen ebenfalls unterirdisch und sind für komplette Bühnenbilder dimensioniert. Mit Wagenbühnen sind das Magazin, der Montagesaal und sämtliche Bühnen miteinander verbunden. Dadurch können die fertigen Bühnenbilder in wenigen Minuten und ohne großen Personalaufwand an jeden gewünschten Standort befördert werden. Klug ausgedacht vom Architekten, dass die Spielfläche des neuen Schauspielhauses exakt auf Straßenhöhe liegt und dadurch die Möglichkeit besteht, sogar die Bühne mit Transportautos zu befahren.
Am 27. November 1992 wurde der erste Spatenstich zu einer der aufregendsten Baustellen in der Mainzer Innenstadt vollzogen, an der die Bevölkerung durch eigens dafür installierte Tribünenöffnungen im dichten Bauzaun regen Anteil nahm. Archäologen legten einmalige Grabungsfunde frei und alle kämpften bei der 12 Meter tiefen Baugrube in der Rheinebene gegen das ständig auftretende Wasser. Zur Sicherung der Baugrubenwanne gegen den massiven Auftrieb des Rheinwassers wurden seitliche Stahlverankerungen in das Erdreich getrieben, deren additive Länge der Strecke von Mainz nach Frankfurt entspricht. Am 17. Mai 1994 war Grundsteinlegung, im Mai 1997 erfolgte die betriebliche Übergabe und am 17. Oktober 1998 wurde das „Kleine Haus“ des Staatstheaters im Rahmen einer Festwoche und der Uraufführung der eigens zu diesem Anlass vom Mainzer Volker David Kirchner (1942-2020) komponierten Oper „Labyrinthos“ eröffnet.
Mit dem „Kleinen Haus“ und seiner präzisen, unmissverständlichen Stellung als monolithischer Baukörper gelang es, das rückwärtige Umfeld des Theaters stadträumlich neu zu definieren. (Abb. 4) „Kleines Haus“ und „Großes Haus“ samt „Tritonplatz“ stehen parallel und vis-à-vis gegenüber, korrespondieren miteinander, teilen sich mit und verbinden sich zu einem Ganzen. Historische Bezüge wurden aufgenommen, Blickbeziehungen wie die Dachreiter der Alten Universität oder der Turmhelm der Quintinskirche sind perspektivisch inszeniert und verdoppeln sich über reizvolle Spiegelungen in den Glasfassaden. (Abb. 5) Über der Alten Universitätsstraße sind sie durch zwei gläserne Übergänge verwaltungsintern und unterhalb bühnentechnisch miteinander verbunden.

Abb. 4 Nachbarschaften

Abb. 5 Nordansicht
Der steinernen Fassade des denkmalgeschützten „Mollerbaus“ steht in identischer Breite und Traufhöhe achsensymmetrisch der Steinkubus des „Möbiusbaus“ in selbstbewusster, zeitgemäßer Architektur gegenüber. Sein grünlicher Sandstein aus Mucharz in Polen kontrastiert belebend den roten Sandstein des Altbaus. Der anschließend rundum verglaste Kubus öffnet sich zu den Freiflächen des „Kronberger Hofes“ und zu dem neu gestalteten „Tritonplatz“, der sich als öffentliches Forum wieder in die festlichen Plätze um den Dom einreiht. Unterbaut ist er mit Proberäumen für Chor und Orchester (Abb. 6) sowie mit drei Ebenen für insgesamt 210 Tiefgaragenplätze.

Abb. 6 Proberäume
Die Stärke der architektonischen Ausformung liegt in dem klaren Gliederungskonzept, dessen innere Organisation nach außen deutlich ablesbar ist. Die drei Kuben „gläsernes Haus“, „steinernes Haus“ und „weißes Haus“ symbolisieren Foyer, Verwaltung und Bühnenturm. Inmitten des gläsernen Foyers steht der steinerne Zuschauer- und Spielraum. Die variabel nutzbare Spielstätte ist in kurzer Zeit von der klassischen „Guckkastenbühne“ (für bis zu 416 Besucher) in eine Arena als „Raumtheater“ (für bis zu 483 Besucher) umzuwandeln. Die umlaufenden, zum Innenraum offenen Galerien lassen sich flexibel als Besucherlogen, als Spiel- und Auftrittsflächen und als technische Nischen für Licht und Ton einsetzen. (Abb. 7)

Abb. 7 Zuschauerraum
Zugleich bilden sie die Innenwände des nach außen verglasten Foyers und somit die Fassaden des Außenraumes. (Abb. 8) Diese gegenseitige Durchdringung von innen und außen erweitert sich mit dem transluzenten Dach von unten nach oben. Tagsüber dringt Sonnenlicht von oben in das Foyer und abends spiegelt sich das festlich gekleidete Publikum im Glashaus wider.

Abb. 8 Foyer
Diese stete Transparenz Innen / Außen, Tag / Nacht, Unten / Oben steigerte Bildhauer Rainer Fetting (geb. 1949) mit seinem expressiven „Himmelsstürmer“ aus Bronze auf dem Bühnendach bis ins Unendliche. (Abb. 9)

Abb. 9 Der Himmelsstürmer
Diese Spannung zwischen Dichte und Transparenz führte die Bildhauerin Prof. Ursula Bertram bei der Gestaltung der beiden gläsernen Kegel auf dem Tritonplatz fort. Tagsüber belichten sie die darunter liegenden Proberäume für Orchester und Chor. Nachts strahlt künstliches Licht bis in ihre Spitzen und setzt den Platz in ein heiteres Beziehungsgeflecht zwischen Architektur, Theater, Kunst und Philosophie. (Abb. 10)

Abb. 10 Lichtkegel auf dem Tritonplatz
Erstveröffentlichung: conSens 1-2025 MZ, S. 38-40.
Bildnachweise: Joseph Stübben, 2; Klaus Möbius, 3; Rainer Metzendorf, 4+5; Gerhard Kassner, 1+6-10.
Porträt Klaus Möbius: © Prof. Ursula Bertram
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